Nur langsam verschwand die Last aus den Füßen, Hüften, Armen und Schultern und schließlich entwich sie aus der Brust. Befreit atmete ich ein. Ein zarter Zitronenduft umhüllte meine müden Lebensgeister. Das dröhnende Geräusch in den Ohren klang ab. Vorsichtig bewegte ich die Finger. Wie ein Schleier bedeckte mich eine wohltuende Wärme. Sie schlüpfte in meinen Mantel und die Kälte hatte keine Daseinsberechtigung mehr. Erst jetzt schlug ich die Augen auf. Das Kerzenlicht warf seichte Schatten auf Nevans Gesicht und betonte seinen kräftigen Kieferknochen.
Vorsichtig zog er die Arme zurück und musterte mich. »Alles in Ordnung?«
»Was ist passiert? Ich hatte das Gefühl, als wäre ich zerquetscht worden«, huschte es leise von meinen Lippen.
Er schnippte mit seinen Fingern und erhellte mit einer Geste den Raum so weit, dass ich einen Sitzungssaal erkannte. Die Wände waren mit Bordüren verziert und im Kreis angeordnete Holzbänke ragten auf mehreren Ebenen über uns auf. Womöglich saßen wir in einem Turm. Mondlicht schien durch offene Dachfenster herein und beleuchtete kaum sichtbar das mittige Podest, auf dem ein rundes Objekt in einer goldenen Halterung eingefasst war. Die Kugel war pechschwarz wie die Leere, die ich vorhin gespürt hatte, und verursachte ein mulmiges Gefühl in mir.
Ich stand mit wackeligen Beinen auf. »Das ist nicht der Jahrmarkt. Wo sind wir?«
»Du konntest nicht dortbleiben«, antwortete er gebrochen und schaute mich mit einem ungewöhnlichen Blick an.
Sofort war mir bewusst, dass er einen Fehler begangen hatte. Instinktiv zog ich den Reißverschluss meines Mantels runter, griff in die Hosentasche, angelte mein Handy aus ihr und wischte den Sperrbildschirm weg. Kein Netz, keine Internetverbindung. Fassungslos tippte ich auf die Aktualisierung der Ortsangabe, doch nichts geschah.
Ich schluckte meine Panik und Verwunderung mühevoll herunter. »Bin ich etwa in deiner Welt? Wie ist das möglich?«
Er trat zwei Schritte zurück. »Verzeih mir, ich weiß es nicht. Das hätte nicht geschehen dürfen und ob du wieder zurück kannst …«
»Du weißt es nicht? Ich stehe lebendig vor dir und du hast keine Idee, nicht mal eine Theorie, wie das passieren konnte?«, unterbrach ich ihn und erwartete eine Antwort, aber er blieb still. Ich klammerte mich ans Handy und zur selben Zeit wurde mir weiter im Magen flau.
Nevan rückte mit seiner rar gesäten Sprache nicht heraus.
»Du hast mich entführt«, flüsterte ich vorsichtig und wurde entschlossener. »Du lockst Mädchen in deine Welt, um ihnen etwas anzutun!« Eine bessere Erklärung hatte ich nicht und wenn ich ehrlich war, passte sein Äußeres zu einem dubiosen Verbrecher. Okay, zu einem attraktiven, düsteren Typen allerdings auch.
»Ich entführe keine Menschenmädchen, um sie Gefahren auszusetzen, die sie nicht kennen. Schließlich habe ich keine Verwendung für solche wie dich. Außerdem kann die Insignie nur einmal am Tag benutzt werden«, zischte er und zeigte auf die Kugel.
Das durfte nicht wahr sein! Sams todesängstliches Gesicht blitzte vor meinem geistigen Auge auf. Ich musste schleunigst zurück und ihm sagen, dass ich bei voller Gesundheit war. Ich stampfte auf den Boden. »Verdammt, bring mich zurück!«
Nevan wandte den Kopf ab und antwortete nicht. Wenn er mich nicht zurückbringen konnte, würde ich es aus eigener Kraft schaffen müssen.
Ich drehte mich zu der schwarzen Kugel um und sie fraß sofort meine Standhaftigkeit. Kurz vor der Podestkante hielt ich inne und entdeckte kein Spiegelbild an der Oberfläche. Sie verschluckte das Licht wie ein schwarzes Loch.
Auf jeden Fall gab es eine Möglichkeit, zwischen den Welten zu reisen. Anderenfalls hätte Nevan nicht mit mir in einem Turm stehen und so tun können, als wäre er wieder unsichtbar. Bestimmt musste ich die Kugel berühren, um zurück nach Hause zu finden. Meine Hände verkrampften, denn die Erinnerung an die Schmerzen kehrte zurück. Bei der Vorstellung, dass ich sie erneut fühlen würde, zögerte ich. Mein Arm zitterte, trotzdem erhob ich ihn in Richtung des Sockels. Es war die einzige Möglichkeit, meine Familie noch heute wiederzusehen. Jetzt oder nie!
Blitzartig hielt Nevan meine Hand auf. »Ich schicke dich nicht allein da rein! Es ist zu gefährlich für jemanden ohne Magie«, warnte er, bevor ich die Kugel berührt hatte.
»Fass mich nicht an!« Abrupt schossen mir die frischen Bilder der letzten Berührung wie ein Inferno durch den Kopf.
Er ignorierte meinen Tonfall, ließ aber meine Hand los. »Die Insignie ist nicht ohne Grund schwarz. Sie zieht einen in die Leere, der man ohne magische Fähigkeiten nicht entfliehen kann. Du bist ohne Begleitung nicht dazu in der Lage, nach Hause zu finden. Willst du das riskieren?«
Ich biss mir auf die Lippe. Mum und Grandpa warteten auf dem Jahrmarkt und wenn Sam mich wirklich gesehen hatte, steckte ich doppelt in der Klemme. Was machte ich jetzt bloß? Das war das reinste Desaster!
Die massive Tür des Turmzimmers schlug kräftig gegen die Wand. Eine Frau mit einer kleinen Laterne betrat den höheren Rang der Stufen. Nevan versuchte in letzter Sekunde, sich vor mich zu drängen, aber sie sah mit einem eisigen Blick bereits auf uns herab. Seine halbherzige Bemühung konnte er sich sparen.
»Mister Barrymore, was machen Sie hier zu dieser späten Stunde? Sie müssten längst auf Ihrem Zimmer sein.«
Mein Atem stockte. Ihre Stimme kam mir bekannt vor. Diese Frau war die Professorin, die auf dem Friedhof seinen Namen gerufen hatte. Sie trug ein dunkles, besticktes Kleid. Ihr kurzes weißgraues Haar war streng nach hinten gestrichen.
»Professorin Sharpwood, verzeihen Sie mir. Wir haben ein größeres Problem als das Einhalten von Ruhezeiten.«
Sie ging elegant die Stufen herunter. Mit einer Hand hob sie das Kleid an und mit der anderen die Laterne. »Wer ist das Mädchen? Das ist keine meiner Studentinnen.« Sie leuchtete mich an. »Ihre Kleidung stammt nicht von hier. Sagen Sie mir nicht, dass dieses Mädchen aus der Parallelwelt kommt?!«
Ihr strenges Auftreten schüchterte mich ein. Das Licht flimmerte in ihren graublauen Augen und die Sorgenfalten auf der Stirn gruben sich tiefer hinein. Mich beschlich das Gefühl, dass ich länger hier festsitzen würde als befürchtet.
»Ich weiß selbst nicht, wie das geschehen konnte«, lenkte er ein. Leugnen würde in so einem Fall wenig bringen.
Sie sah meine Kleidung und zog, wie es sich für eine Professorin gehörte, augenblicklich die richtigen Schlüsse. Sie seufzte und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Nevan. »Denken Sie nicht, das hätte keine Konsequenzen für Sie! Sie beide folgen mir unverzüglich in mein Büro.«
Mit dieser Anweisung erklommen wir ernüchtert hinter ihr die steile Treppe, die sie mit Leichtfüßigkeit überwand. Ich kam kaum hinterher. Nevan blieb freundlicherweise an meiner Seite, obwohl er vermutlich eine Menge Ärger am Hals hatte und jeden Grund gehabt hätte, sauer zu sein – ich allerdings auch.
Die Lichtquelle in ihrer Hand erhellte den Gang vor uns. Ein roter Teppich schmückte den kahlen Flurboden und an den Wänden hingen vereinzelt Gemälde von jungen Personen, prachtvollen Räumlichkeiten und Gärten.
»Wie lange haben Sie die Verletzung am Bein?«, fragte die Professorin mich und brach das Schweigen.
»Seit neun Jahren«, sagte ich und verstummte wieder. Ich erregte hier anscheinend mehr Aufmerksamkeit als in meiner Welt, denn sie heilten Wunden und Verletzungen mit einem Fingerschnippen und ich stellte mir vor, dass die Folgeschäden mit Sicherheit wegfielen. Ich musste ihr wie ein ungeschicktes Kind vorkommen. Dabei war das Bein vollständig geheilt. Nur … die Belastbarkeit ließ zu wünschen übrig.
Wir eilten nach mehreren Ecken an einer großen Rundbogenfensterfront vorbei. Das Strebenmuster warf gespenstische Schatten in den Korridor. Ich blickte hinaus und mich überkam sofort eine Gänsehaut. Das schlossartige Gebäude erstreckte sich weit in die Nacht, hunderte Fenster zierten die vier Stockwerke und hohe Türme ragten aus den Dächern. Durch die Reflexion der Scheiben erahnte ich den wolkenfreien Himmel und das fremde Land. Was machte ich an diesem Ort? Ich wusste nichts über ihn, über die Menschen oder geschweige denn, wie man Magie benutzte.
Wir blieben stehen. Professorin Sharpwood öffnete eine mit silbernen Ranken verzierte Tür. Der Griff ähnelte einer knorrigen Wurzel. Sie bat uns höflich rein, stellte ihre Laterne auf das Pult und schnipste einmal. Mein Blick huschte durch den Raum. Vor dem Tisch standen zwei prunkvolle Sessel aus dem Spätbarock. Deckenhohe Regale platzten beinahe vor dunklen Wälzern und zerfledderten Buchrücken. Auf einem las ich: Die legendäre Stadt Ilzar.
»Setzen Sie sich, Sie haben mir eine Menge zu erklären«, forderte Professorin Sharpwood und stützte sich mit beiden Händen an der Tischkante ab.
Nevan erklärte ihr mit kurzen Sätzen die ganze Situation. Er ließ unsere Streitereien und sein Verfolgungstalent aus. In seiner Geschichte waren wir uns zufällig begegnet und er hatte mich unabsichtlich berührt. Ihr Blick huschte in den Erzählpausen zwischen uns hin und her. Sie wollte eine Bestätigung von mir, aber ich saß hilflos in einem bequemen Sessel und wusste nicht, was gerade passierte. Wieso log er seine Professorin an? War es ihm unangenehm, mich länger zu kennen? Oder steckte doch eine gescheiterte Entführung dahinter? Verdammt, ich musste zurück! Ich krallte meine Fingernägel in die weiche Armlehne.
»Sie wissen, dass ich nicht besonders gut in der Insignienbeherrschung bin. Ich dachte, wenn ich mehr Zeit in der Menschenwelt verbringe, bestehe ich die Prüfung.«
»Sie kennen die Regeln, Mister Barrymore. Ich gebe Ihnen noch eine Chance, an der Prüfung teilzunehmen. Allerdings unter einer Bedingung: Sie besuchen nie wieder die andere Welt. Einzelgänger dulde ich nicht und das wissen Sie! Den Rest wird der Rat entscheiden müssen.«
Ihr ganzes Auftreten erschien mir wie eine Lawine aus Autorität. Bei dieser erdrückenden Stimmung wäre ich längst in mich zusammengefallen, doch Nevan legte nur seine Standardmiene auf und ließ kein Muskelzucken zu. Er nickte, ohne ihr zu widersprechen.
»Sie können in Ihr Zimmer gehen. Seien Sie morgen pünktlich zum allgemeinen Insignienunterricht anwesend.«
Er würdigte mich keines Blickes, als er vom Stuhl aufstand und den Raum verließ. Wieder fragte ich mich, was mit dem Kerl nicht stimmte. So selbstsicher konnte niemand nach einem vernichtenden Urteil sein.
»Kommen wir zu Ihnen.« Professorin Sharpwood beugte sich vor. »Es ist nicht üblich, dass sich ein Mensch nach Escarun verirrt. Haben Sie eine Ahnung, wie das geschehen konnte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass Nevan mich berührt hat und ich schreckliche Schmerzen hatte. Bis er mich hierhergebracht hat, wusste ich nichts von dieser Welt.«
»Was Sie gespürt haben, war eine typische Verzerrung der Insignie. Anfänger meines Kurses erzählen von einer wahnsinnigen Last auf ihren Körpern, die jegliche Funktion im Innern sowie Äußeren erschwert. Sie hatten Glück, dass Mister Barrymore wusste, was zu tun war. Sie wären ohne seine Hilfe gestorben.«
An meinem Nacken biss sich ein Schauer fest. Hatte er mich wirklich zufällig vor dem Tod bewahrt oder war es seine Absicht gewesen, damit ich ihm mein Vertrauen schenkte? War alles von ihm geplant? Ich ballte meine Fäuste auf dem Schoß. Diese Welt behagte mir gar nicht. Hier gab es keinen Strom und was mir bekannt vorkam, war nicht sonderlich modern. Ich wusste nicht mal, wo die Lichtquelle hing, die das Büro erhellte. »Können Sie mich zurückbringen?«, fragte ich vorsichtig.
»Sie allein da reinzuschicken, wäre verantwortungslos. Wir wissen nicht, wie die Finstersphäre reagieren wird oder ob Sie jemals wieder zurückkämen.«
»Das bedeutet, wenn dieses schwarze Ding mir das Recht verweigert, nach Hause zu kommen, sitze ich lebenslang hier fest?«
»Wir werden unser Bestes für Sie tun. Ein Mensch gehört nicht in eine magische Welt«, fügte sie hinzu.
Tränen schossen mir in die Augen. Ich wollte mich in einem Loch verkriechen und wünschte mir, dass Nevan mich nicht berührt hätte. Wie hatte das geschehen können? Alles, was mich ausmachte, würde an diesem Ort keine Bedeutung haben. Ich wollte einen Abend mit meiner Familie verbringen und mich nicht in einer mir unbekannten, verhängnisvollen Welt wiederfinden.
»Darf ich nach Ihrem vollständigen Namen fragen?«
»Shary Evergarden«, sagte ich bedrückt.
»Miss Evergarden«, sprach sie mich direkt an und fing meine schwindende Aufmerksamkeit. »Wir besprechen das weitere Vorgehen gleich morgen früh mit dem Rat. Ich stelle Ihnen im Nebenraum einen Schlafplatz zur Verfügung. Sie sehen müde aus.«
Müde war der falsche Begriff. Es kam mir vor, als wäre ich von einem Lastwagen überrollt und hinterher mit einem Stock ausgepeitscht worden. Selbst eine Leiche sähe besser aus, als ich mich fühlte.
Professorin Sharpwood schob feinfühlig einen Vorhang zur Seite, den ich hinter dem Regal nicht gesehen hatte. Träge stand ich vom Sessel auf. Die winzige Kammer besaß keine Fenster, nur karge weiße Wände und eine Matratze sowie eine Kerze, die einen schmalen Beistelltisch schmückte. Eine Vier-Sterne-Unterkunft sah definitiv anders aus.
»Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich am Schreibtisch«, sagte sie und ließ den lichtdurchlässigen Vorhang zurück an seinen Platz gleiten.
Meine Finger tasteten das provisorische Bett ab und anschließend knüllte ich meinen Mantel zu einem Kissen zusammen. Mein Puls hämmerte gegen mein Trommelfell und begleitete den Takt meiner Sorgen. Was sollte ich tun, wenn ich nie mehr unser Haus betreten könnte? Was würde meine Familie tun, wenn ich nicht mehr auftauchte? Das war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um spurlos zu verschwinden.
Darüber nachzudenken, wie sich die Dinge zum Negativen entwickeln könnten, war gerade auch nicht hilfreich. Schließlich wusste ich nicht, was morgen passierte.
Ich starrte an den Vorhang. Das Kratzen eines Stiftes oder einer Feder drang hindurch. Die Professorin schrieb energisch und ließ keine Rille auf dem Tisch aus. Eine Nacht in diesem Raum würde ich überleben. Am kommenden Tag würde ich hoffentlich nach Hause zurückkehren und vergessen, was geschehen war. Der Besuch von Dad stand nämlich bevor und ein Nevan, der mein Leben zusätzlich durcheinanderbrachte, passte gar nicht ins Bild. Zum Glück hatte Professorin Sharpwood ihm ausdrücklich verboten, diese Finstersphäre jemals wieder zu benutzen.
