Leseprobe zu Mythnoir Band 1

Mein Kopf ruckte hoch, als jemand einen Gong anschlug. In
einer Reihe betraten jetzt die Studenten den Trainingsbereich.
Wenn ich richtig zählte, waren es vierundzwanzig. Jeder trug ein
auffälliges Schmuckstück oder eine Waffe in der Hand. Auf der
Stelle entdeckte ich Nevan und, zwei bewaffnete Seltaren weiter,
Lucien, der zu uns hochschaute.
»Da jetzt alle versammelt sind, erkläre ich Ihnen den Ablauf
der Prüfung«, verkündete ein Ratsmitglied und erhob sich. Der
Stimme nach war es Beryll, die Frau mit dem weißen Kristall. Sie
wies hinter sich. »Die Sanitäter stehen am Rand für Sie bereit und
bei schwerwiegenderen Verletzungen ist Mrs Whitfield zur Stelle.«
Ich blickte über die Schulter. Die Krankenschwester bereitete
hinter uns gewissenhaft verschiedene Gegenstände vor. Die Stele
lag neben einem gefalteten Tuch und einer Glaskaraffe mit einer
zähflüssigen dunklen Brühe. Andere kleine Behälter waren mit
blauen Flüssigkeiten befüllt. Ich konnte keine Spritzen und auch
keine gefährlich wirkenden Geräte ausmachen. Wenn ich es nicht
besser gewusst hätte, hätte ich das ganze Zeug für Requisiten
eines schlechtbezahlten Theaterstücks gehalten.
»Es wird vier Durchgänge mit jeweils sechs Personen geben«,
erklärte das Ratsmitglied weiter. »Bitte stellen Sie sich, wenn Sie
aufgerufen werden, auf die Markierungen. Professorin Sharpwood
leitet diesmal die Prüfung. Vertrauen Sie auf ihre Fähigkeiten und
ihre Erfahrung. Selbstverständlich achten wir auf Ihr Wohlergehen
und werden sofort einschreiten, falls etwas Unvorhergesehenes
passiert.« Sie sog die Luft scharf ein. »Lasst uns die Prüfung der
Macht beginnen!« Sie hob die Hand und ließ zwei Finger vorschnellen.
Der Gong ertönte erneut.
Professorin Sharpwood betrat den Platz. Die kurzweiligen Gespräche verklangen.
Sie hielt einen Stab mit goldenen Riemen und roten Steinen in der Hand.
Vom Balkon sah er schmächtig und zerbrechlich aus, aber gleichzeitig
umgab ihn eine Aura, die vor Stärke strotzte. Der Untergrund knisterte
unter ihren Pumps, als ob sie auf Glasscherben laufen würde.
Mir huschte ein Schmunzeln über die Lippen. Das harte Auftreten war ihr Markenzeichen.
Einige der Studenten äfften das Geräusch nach und verstummten
wieder, als ein anderer Professor sie ermahnte.
»Ihre Schuhe sind immer wieder der Kracher«, meinte Tamira
und erntete zustimmendes Gelächter in unserer Reihe. Nacheinander wurden
Namen aufgerufen und ich hoffte, dass unsere Jungs nicht unter ihnen
waren. Als erste Gruppe anzufangen, war immer unangenehm. Man
wurde ins kalte Wasser geworfen und konnte nicht von den vorherigen Gruppen
profitieren. Zumindest war es mir in Sportprüfungen so ergangen.
Doch dies war eine magische Welt und keine fröhliche Veranstaltung mit bunten
Preisen.
Lucien und Nevan wurden nicht aufgezählt. Erleichtert atmete
ich auf. Die Prüflinge platzierten sich wie angeordnet auf die
Markierungen. Sie zogen ihre Klingen aus den Scheiden, hoben
ihre Stäbe und berührten sacht ihre Halsketten oder Armreife.
Für eine gefestigte Haltung stellten sie sich schulterbreit hin.
Anscheinend wussten sie, was gleich passierte. Die Nervosität
kochte in der Atmosphäre. Professorin Sharpwood blieb exakt in
der Mitte der sechs Seltaren stehen. Sie stampfte mit ihrem Stab
auf den Boden. Eine kleine Staubwolke zog mit dem Wind davon.
»Sind Sie bereit?«, fragte sie und jeder Student nickte. Keiner
brachte einen Ton heraus.
»Apophis, zeige dich!«, erklang ihre Stimme kraftvoll und hallte
von den Wänden wider. Am unteren Ende des Stabs tauchten plötzlich
dunkle Schemen auf. Zischende Schlangen, ohne materielle
Form, umhüllten die Professorin. Sie stampfte noch einmal
auf. Jetzt schlängelten sie sich auf die Studenten zu. Jeder der
sechs Seltaren wurde von jeweils einem Schemen attackiert. Sie
schlichen um die Füße und mit jeder Wendung stiegen sie empor.
Keiner der Studenten wehrte sich, keiner schrie auf oder schlug
den Gegner mit der Waffe in die Flucht – niemand.
»Wieso bewegt sich keiner?«, fragte ich besorgt. Meine Knie
fingen unweigerlich zu zittern an.
»Pst, ich will das sehen«, zischte Arlinn und hielt den Blick eisern
auf den Platz gerichtet.
Auf eine Antwort von Tamira konnte ich auch nicht hoffen.
Sie krallte die Fingernägel ins Geländer und schien selbst an der
Prüfung teilzunehmen. Eine Zuckung ihrer Hand und meine Aufmerksamkeit
glitt wieder nach unten. Die Schemen krochen in die
Atemwege der Studenten. Zwei von ihnen röchelten, jemand
versuchte zu husten, ein anderer tippelte einen Schritt nach vorn, der
fünfte riss den Kopf nach oben und der letzte ging auf die Knie, als
der Schatten vollständig in ihm abtauchte. Seine silbrige Klingespitze hing
am Boden. Sich auf sie stützend, gelang es ihm, wieder
auf die Beine zu kommen. Ein anderer Seltaris schwankte, aber
auch er fing sich und festigte seine Position erneut. Diese Schemen
machten irgendetwas mit ihnen. Der fünfte Student keuchte. Der
dunkle Schatten entwich aus seinen Augenhöhlen und riss die
Lebensgeister des Jungen mit. Er fiel und etwas unter seiner Haut
bröckelte dunkel hervor.
Professorin Sharpwood zog ihren Handlanger zu sich zurück.
»Bringt ihn aus dem Kreis! Sofort!«, brüllte sie.
Das Publikum hielt den Atem an. Zwei Sanitäter mit roten
Armbinden eilten dem Jungen zur Hilfe und zogen ihn an den
Schultern vom Schauplatz weg. Der Dritte kippte wie ein Holzbrett
um. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten leer in den
Himmel. Angst kroch mir in die Kehle.
Auch er wurde aus dem Kreis gebracht. Schließlich schrie ein
Mädchen entsetzlich auf. Sie zitterte am ganzen Körper und kratzte
sich mit ihren langen Fingernägeln die Wangen auf. Blut quoll
hervor und tropfte herunter, dennoch wirkte sie wie in eine Trance
versunken. Mir wurde bewusst, dass es bei dieser Prüfung keine
Vorteile gab, wenn man als Letzter aufgerufen wurde. Jetzt zierten
tiefe Kratzer die Arme der Studentin. Sie schrie wieder auf und
ein Sanitäter packte sie von hinten. Er schleifte sie trotz heftiger
Gegenwehr aus dem Kreis und brachte sie ins Gebäude. Man hörte
noch Gewimmer, dann kehrte Ruhe ein.
Die drei übrigen Teilnehmer standen wie festgefroren auf ihren
Markierungen. Mit geschlossenen Augen hielten sie verzweifelt
ihre Insignien fest.
Das Publikum war aufgewühlt. Leise Gespräche drangen an
mein Ohr. »Sie werden es schaffen.«
»Abwarten. Es ist noch nicht vorbei«, mahnte jemand auf dem
Balkon und behielt recht.
Ein weiteres Mädchen verlor die Fassung, riss sich den Kragen
auf und schnappte nach Luft. »Verflixt, ich war so nah dran!«,
fluchte die Studentin unter schweren Atemzügen.
Professorin Sharpwood bat sie aus dem Kreis. Einen Augenblick
später öffnete der vorletzte Seltaris in der Gruppe die Augen. Er
betrachtete sein Rapier und grinste. Die Waffe schimmerte bläulich
und merkwürdige Symbole blitzten auf der Klinge.
»Der Erste in dieser Runde«, sagte Arlinn neben mir. »Er hat den
Bann gebrochen, obwohl er am Anfang geschwächelt hat.«
Gleich darauf erwachte der andere aus seiner Starre. Sieges-
gewiss hob er die Faust nach oben und sein Handreif begann in
einem hellen Gelb zu funkeln.
Professorin Sharpwood nickte den beiden zu. Ein tosender
Applaus überkam die Tribüne. Die Professoren klatschten mit
und wir taten es ihnen gleich. Meine Anspannung fiel mir von
den Schultern ab. Endlich war die Runde vorbei. Wieso hatten
die Professoren uns das Zuschauen erlaubt? Selbst das bloße
Ansehen von hier oben war nervenaufreibend und grausam. Ich
würde garantiert tagelang keinen Appetit mehr haben und das
war erst der Anfang der Prüfung. Ich hatte Furcht davor, was noch
geschehen konnte.
Die beiden Gewinner gaben sich einen Handschlag und bejubelten sich.
»Damit ist die erste Gruppe durch«, verkündete Beryll. »Kommen
wir zur zweiten, sofern niemand am Tisch etwas dagegen einzuwenden hat.«
Sie blickte um sich und keiner widersprach ihr.
»Was tun diese Schemen, wenn sie in den Körpern sind?«,
fragte ich, bevor die nächsten Namen aufgerufen wurden und mir
niemand antworten konnte, weil alle in die Prüfung vertieft waren.
»Sie finden die tiefsten Ängste der Teilnehmer heraus und verursachen
Halluzinationen. Die muss man allein besiegen, um die zweite Macht
zu erwecken«, erklärte Arlinn.
»So viel Aufwand, nur für eine Erweiterung der Kräfte. Ich
würde meinem schlimmsten Feind nicht dafür begegnen wollen«,
sagte ich mit angsterfüllter Stimme.
»Du brauchst es auch nicht. Nicht jeder ist so mutig, wie du
gerade miterlebt hast.«
Tamira hakte sich unter meinen Arm. »Ich bin mir nicht sicher,
ob ich es könnte. Man muss sich aber vor Augen führen, dass du
eine zweite Magieform erlernen kannst, wenn dein innerer Feind
fällt.«
Für meinen Geschmack reichte das nicht. Ich konnte mir nicht
einmal vorstellen, was meine tiefste Angst war. Vielleicht einsam
zu sterben, aber ob diese Angst groß genug für eine zweite Kraft
war? Wohl kaum. Schließlich war ich ein Mensch und wir wurden
seit Anbeginn unserer Zeit von Furcht gelenkt. Der sichere Alltag
blendete sie bloß aus und so schlummerte sie friedlich im Unterbewusstsein.
Plötzlich erklangen Luciens und Nevans Namen und ich dachte
nicht mehr darüber nach, wer oder was mein Feind war, sondern
ihrer.
»Dann haben sie es schnell hinter sich«, wisperte Arlinn und
streichelte über ihre Narbe.
»Hoffentlich, ohne eine Verletzung davonzutragen«, sagte Tamira
zögerlich.
Meine Luftröhre schnürte sich zu. Die Vorstellung, dass Lucien
sich die Haut aufkratzte oder ohnmächtig würde, war fürchterlich.
Was mit Nevan passierte, war mir egal. Er konnte mir mit seinen
Geheimnissen gestohlen bleiben. Ein merkwürdiges Gefühl stach
mir in die Seite. Mit einem Kopfschütteln nahm ich der verirrten
Empfindung den Wind aus den Segeln und widmete mich dem
Geschehen.
Die sechs Teilnehmer nahmen ihre Plätze ein. Tamira drückte
mir den Arm gegen meine Brust. Ihr waren die Jungs in so kurzer
Zeit wichtig geworden. Kein Wunder, wir hingen auch jeden Tag
zusammen. Beim Essen, beim Lernen, in den Pausen und sogar am
Abend kurz bevor die Nachtruhe anbrach. Auch Arlinn sah ich die
Anspannung an, wodurch meine eigene im Magen wuchs.
»Sind Sie bereit?«, fragte Professorin Sharpwood und die
Studenten nickten mit gezogenen Insignien.
Sie stampfte wie bei der ersten Gruppe, mit dem Stab auf den
Boden und es erschienen Schemen, die sich zu ihren Opfern
schlängelten. Lucien und Nevan ließen die Schatten ihre Pflicht
erfüllen. Sie zeigten keine Abwehrmechanismen und schwankten
nicht. Ich musste zugeben, dass beiden die Entschlossenheit sehr
stand. Das fiel nicht nur mir auf. Ein Mädchen neben uns
schmachtete sie an.
»Wieso müssen die beiden so furchtbar eigensinnig sein?«
Arlinn grinste. »Sie sind mehr als nur eigensinnig. Sie sind das
Schlimmste, was einem passieren kann.«
Tamira wechselte einen Blick mit mir und wir kicherten
gemeinsam los. Sie brachte es auf den Punkt. Diese Kerle sorgten für
ständiges Chaos. Wo Nevan eine tückische Ruhe verursachte, musste
der andere einen draufsetzen und regelrecht gegenwirken, was oft
mehr Schaden anrichtete, als dass es der Situation half. Sie waren
so gegensätzlich und doch auf ihre Weise gleich.